Eigenständigkeit und Selbstverantwortung
Rede anlässlich des Islisberger Dorffests 31. Juli 2005

Liebe Islisbergerinnen und Islisberger, liebe Gäste

Am 27. Februar haben Sie mich als würdig befunden, Sie in Aarau im Grossen Rat zu vertreten. Für dieses Vertrauen danke ich Ihnen herzlich, und es ist mir eine grosse Ehre, heute an unserem traditionellen Dorffest einige Gedanken zu unserem Nationalfeiertag und unserer Gesellschaft zu äussern.
Vor zwei Jahren durfte Islisberg 20 Jahre Eigenständigkeit feiern, die Trennung von Arni war damals ein Schritt, der sich, glaube ich, für unser Dorf gelohnt hat. Allerdings hat sich seither das politische Umfeld radikal geändert, man spricht heute von "Synergien nutzen" und "Gemeindezusammenschlüssen", bedingt durch die neuen Herausforderungen und die zusätzlichen Aufgaben, die durch gesellschaftliche Entwicklungen und durch neue Lastenzuteilung des Kantons auf die Gemeinden zukommen. Dadurch stellt sich die Frage nach dem Sinn einzelner Aufgaben und vor allem nach dem Staatsverständnis, das zur Zeit vorherrscht.
Daher ist es mir äusserst wichtig, heute kurz auf einen Grundgedanken unserer Demokratie einzugehen, der Selbstverantwortung, oder, politisch ausgedrückt, der Subsidiarität.
Was bedeutet das nun? Nichts anderes, als dass die Probleme genau in dem Kreis gelöst werden sollen, wo sie anfallen, und, falls diese Instanz dazu nicht in der Lage ist, die nächsthöhere zum Tragen kommt. Für jeden Einzelnen heisst das: Jeder Mensch ist für die Ausgestaltung seines Lebens selbst verantwortlich, der Staat ist nicht für das persönliche Glück eines Mitbürgers zuständig.Daraus wiederum folgt, dass der einzelne Mensch auch fähig ist, seine Probleme zu lösen. Ist er damit überfordert, aus welchen Gründen auch immer, darf er Unterstützung aus seinem persönlichen Umfeld, aus seiner Familie erwarten. Uebersteigt ein Problem auch die Möglichkeiten der Familie, folgt als nächste Instanz die Gemeinde.
Werden nun einige Gemeinden vor Aufgaben gestellt, die sie allein nicht lösen können, schliessen sie sich in diesem Bereich zusammen und bewältigen die Herausforderungen regional. Alles, was diesen Horizont übersteigt, wird schliesslich vom Kanton übernommen. So lässt sich die Zuständigkeit regeln bis hinauf zum Bund.

Auf diesem Prinzip der Subsidiarität beruht die Gründung unserer Eidgenossenschaft. Unsere Vorfahren liessen sich nicht mehr gefallen, von Oben regiert zu werden, von einem Kaiser, der weit weg ist und die lokalen Verhältnisse nicht kennt und Vögte entsendet, die kein Verantwortungsbewusstsein zeigen und die persönliche Bereicherung zum obersten Gebot erheben. Nein, die vier Waldstätte wollten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihr tägliches Leben nicht mehr den Launen und der Machtentfaltung einer Fremdherrschaft unterwerfen. Natürlich waren auch wirtschaftliche Interessen im Spiel, man wollte die Zölle für die Gotthard-Handelsroute lieber selber einstreichen. Aber schliesslich ist ein Staat auch nur mit einer gesunden Wirtschaft überlebensfähig. Ironie der Geschichte ist dabei, dass gerade unser moderne Bundesstaat, der auf Gewaltentrennung und Subsidiarität beruht, durch einen absolutistischen Herrscher gegründet worden ist. Wäre dieses Prinzip aber nicht tief in der Bevölkerung verwurzelt gewesen, hätte die Bundesverfassung kaum so schnell und gründlich Akzeptanz gefunden.

Wie steht es aber mit unserem Staatsverständnis heutzutage? Ist der moderne Mensch noch willens und in der Lage, seine Eigenverantwortung wahrzunehmen? Ein pessimistischer Blick auf unsere Gesellschaft überzeugt einen vom Gegenteil: es herrscht heute eine Mentalität des Delegierens, des Abschiebens von Problemen an Fachleuten. Das beginnt bereits mit der Erziehung unserer Kinder. Immer mehr Eltern scheinen überfordert und nicht in der Lage, ihren Kindern klare Grenzen zu setzen. Die engagierteren suchen immerhin frühzeitig Rat bei Erziehungsfachleuten, die anderen delegieren ihre Erziehungsprobleme an die Schule, deren Aufgabe es eigentlich wäre, Bildung zu vermitteln. Dem Kind selbst wird nicht mehr zugetraut, selber seine Stärken zu entdecken und seine Talente zu entwickeln, nein, es braucht dazu Frühförderung mit speziell ausgebildeten Personen. So treiben wir bereits der nächsten Generation das Selbstbewusstsein aus, sein Leben ohne fremde Hilfe in die Hand nehmen zu können.
Ein anderes Beispiel ist, wie wir mit persönlichen Krisen und mit Schicksalsschlägen umgehen. Da viele Leute keine spirituelle Heimat mehr haben, sind sie mit der Bewältigung solcher Ereignisse überfordert und brauchen  therapeutische Betreuung. Auch die Familien bieten oftmals keinen Halt mehr, da immer mehr Ehen geschieden werden und andererseits die Familienmitglieder nicht mehr im früheren Masse aufeinander angewiesen sind. Durch diese Entwicklung wird immer öfters der Ruf nach der Hilfe vom Staat laut, der in diese Lücke einspringen solle; eine ungute Entwicklung.

Die moderne Gesellschaft steckt in einem Dilemma: einerseits propagiert sie die individuelle Freiheit jedes Einzelnen, was zur Folge hat, dass der Unwillen wächst, sich in einer Gemeinschaft einbinden zu lassen, seine Bedürfnisse zurückzustecken und sich für die Allgemeinheit zu engagieren, andererseits kann offenbar ein immer grösserer Teil der Bevölkerung nicht mehr mit dieser Freiheit umgehen und verlässt sich auf "Vater Staat", der ihm bei allen Problemen beistehen soll.
Einmal abgesehen von den finanziellen Folgen, die wir auf die Dauer nicht mehr tragen können, widerspricht dies doch auch unserem Bild vom mündigen Bürger, der Basis unseres Gemeinwesens. Laut einem altmodischen, aber keineswegs veralteten Bild setzt er sich ein mit Kopf, Herz und Hand, was nichts anderes heisst als mit gesundem Menschenverstand, Mitgefühl und Zuneigung zu Mitmenschen und Schöpfung, und mit tatkräftiger Hilfe und einer Leistungsbereitschaft, wo diese gefordert ist.  Der allsorgende Vater Staat hingegen entspricht einem totalitären Staatsgedanken, der seine Bürger bevormundet und gängelt.

Verstehen Sie mich richtig, es geht nicht darum , den grenzenlosen Liberalismus zu propagieren. Die Aufgabe des Staates ist es, das gesellschaftliche Zusammenleben zu regeln, die Rechte und Pflichten des Bürgers zu definieren und für die Wirtschaft günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, ohne die Schwachen auszugrenzen, und mit moralischer Verantwortung gegenüber der Würde des Menschen und der Schöpfung. Aber, um es nochmals zu betonen: der Staat ist nicht verantwortlich für das Glück jedes Einzelnen! Und, ebenso wichtig: er erachtet jeden einzelnen für mündig und fähig, sein Leben eigenverantwortlich zu führen. Er springt da ein, wo jemand durch das soziale Netz zu fallen droht oder wo ein Problem im engen Rahmen nicht mehr gelöst werden kann.

Was hat das alles jetzt mit unserem Dorf zu tun? Islisberg ist ein positives Beispiel, was Selbstverantwortung und Gemeinschaftssinn betrifft. Wir sind nicht gleichgültig unserem Nachbarn gegenüber, wir helfen direkt, wo es not tut und engagieren uns für unsere Gemeinde. Ein tragisches Ereignis hat unser Dorf erschüttert und die Vertrauensbasis unseres Zusammenlebens infrage gestellt. Aber die Islisbergerinnen und Islisberger haben sich bewährt, sie sind zusammengestanden, haben gemeinsam das Unfassbare ausgehalten, waren füreinander da und haben sich gegenseitig Kraft gegeben. Wir werden noch lange daran zu tragen haben, aber ich glaube, dass unsere Dorfgemeinschaft gestärkt daraus hervorgegangen ist.

Islisberg ist ein kleines Dorf, bald wird es wohl das kleinste im Bezirk sein. Natürlich ist es daher mit gewissen Aufgaben überfordert, durch seine überschaubare Grösse und seine Bevölkerungsstruktur andererseits auch wieder privilegiert. Die meisten unserer Probleme können wir einfach und unbürokratisch lösen, sofern der Kanton uns lässt. Um unsere Eigenständigkeit zu wahren, ist es überaus wichtig, diese Vorteile zu betonen und auch zu bewahren. Ich würde mir wünschen, dass alle Bürger unseres Landes ihre Eigenverantwortung so wahrnehmen wie die Islisberger und ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln, was ihre Selbstkompetenz angeht. Nur wo die zwischenmenschliche Konfliktlösung nicht mehr funktioniert, die Menschen nicht mehr miteinander reden können, wird der Staat bemüht. Leider ist dies eine Entwicklung, die zunehmen wird, wenn wir nur all die Gerichtsverhandlungen um Nichtigkeiten als Beispiel nehmen. Es ist eigentlich traurig, dass zu jeder Gelegenheit gleich der Anwalt beigezogen wird und zeigt nur, wie es um unseren Umgang miteinander bestellt ist. Ehe wir uns also über die zunehmende Ueberreglementierung und den Gesetzesdschungel beklagen, müssen wir uns bewusst werden, dass die Art, wie wir zusammenleben und miteinander umgehen, den Bedarf an zusätzlichen Gesetzen beeinflusst.

Wenn wir jetzt anschliessend gemeinsam mit dem Gemischten Chor die Landeshymne singen, machen wir uns doch wieder bewusst, was für ein Staatsverständnis darin beschworen wird: unser Leben ist in Gottes Hand, aber die Menschen unter sich leben in Freiheit! Gott schreibt uns nicht, wie es in anderen Religionen der Fall ist, ein Staatssystem vor, sondern grundlegend sind die Würde des Menschen und die Unterstützung des Schwachen.
Leben wir also weiterhin eine tragfähige Gemeinschaft vor und lassen Sie uns diese heute abend feiern, denn unser Dorffest drückt am besten unseren Zusammenhalt aus. Daher danke ich auch ganz herzlichen den Dorfvereinen und ihren aktiven Mitgliedern für die Organisation des Festes und die Arbeit, die sie leisten, damit wir einige gemütliche Stunden verbringen und unser Islisberg feiern können.  Ich wünsche Ihnen ein schönes Fest und unserem Dorf auch in Zukunft ein eigenständiges Dasein in einem Kanton selbstverantwortlicher Bürger!

Alexandra Abbt