Bürger und Staat - Resignation oder Engagement?
Festrede an der 1. August-Feier 2007 in Sarmenstorf

Liebe Sarmenstorferinnen und Sarmenstorfer, liebe Festgemeinde

Es ist mir eine grosse Ehre und Freude, als Gast aus der östlichsten Gemeinde unseres Kantons in die westlichste unseres Bezirkes eingeladen zu werden und die Festrede zum Nationalfeiertag halten zu dürfen.
Es ist gar nicht so einfach, ein Thema zu finden, wenn einem das Umfeld nicht so vertraut ist. Doch andererseits denke ich, dass Sie mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben  wie die Gemeinden im Reusstal, zumindest, was in den letzten Monaten der Presse zu entnehmen war. Sie vermuten richtig, ich spreche hier unter anderem die Diskussionen um die Standortfrage bezüglich Oberstufenschule an.

Ich möchte Ihnen heute Abend aber nicht die Festlaune mit einer Grundsatzdebatte über das Bildungskleeblatt verderben. Darüber werden Sie in den nächsten Monaten noch genug zu hören bekommen. Vielmehr zeigen die Aktionen und Reaktionen in dieser Angelegenheit symptomatisch auf, dass es mit dem Verhältnis zwischen Kanton und Gemeinden nicht zum Besten bestellt ist. Und dies ist ein Thema, das sich lohnt, etwas näher zu betrachten, denn es hängt mit den Grundwerten unserer Demokratie und unserem Gebrauch davon zusammen. Gerade auch ein weiteres Projekt des Regierungsrates lässt ein zentralistisches Staatsverständnis erkennen, nämlich die Gemeindereform. Dieses Projekt wird im Herbst mit Leitsätzen und entsprechenden Massnahmepaketen in die Vernehmlassung geschickt. Und darin kommt der Wille der Regierung deutlich zum Ausdruck, die Zahl der Gemeinden drastisch zu reduzieren.
Nun kann man dem Thema Gemeindefusionen offen gegenüberstehen, doch stellt sich immer noch die Frage, wer bestimmt, ob Fusionen ins Auge gefasst werden sollen oder nicht? Ist es wirklich der Kanton? Oder sollte ein so weitreichender  Entschluss nicht vielmehr direktdemokratisch zustande kommen? Wer ist befugt, unser unmittelbares Lebensumfeld zu gestalten?  Die Regierung begründet die Dringlichkeit ihrer Massnahmen damit, dass immer mehr Gemeinden Mühe haben, ihre Behördenstellen zu besetzen und die Leute im Allgemeinen wenig motiviert sind, ein politisches Amt zu übernehmen oder ihre demokratischen Rechte zum Beispiel durch den Besuch der Gemeindeversammlung wahrzunehmen. In diesem Vakuum ist es nach Meinung des Kantons erforderlich, dass die Probleme übergeordnet gelöst werden. Persönlich bin ich der Meinung, dass eher der reibungslose Ablauf des kantonalen Verwaltungsapparat mit einem stark verringerten Störfaktor Gemeindeautonomie im Vordergrund steht. Trotzdem müssen wir uns die Frage nach unserem Beitrag zu dieser Situation stellen: Inwieweit sind wir selber bereit, uns zu engagieren und unsere Eigenverantwortung zu übernehmen? Nehmen wir es selbst in die Hand, anstehende Probleme zu lösen oder warten wir auf Massnahmen von oben? Wollen wir selbst gestalten oder uns nur noch verwalten lassen?

Natürlich sind die meisten von Ihnen beruflich so stark eingebunden, dass beinahe keine Zeit und keine Energie mehr bleibt, sich auch noch ehrenamtlich zu betätigen. Viele von Ihnen sind auch in den verschiedenen Vereinen engagiert, ein Einsatz, der gerade in der immer stärker fortschreitenden Anonymisierung und Individualisierung nicht zu überschätzen ist. Es geht auch nicht darum, dass sich alle zu einem öffentlichen Amt gedrängt fühlen, nein, Eigenverantwortung fängt schon im Kleinen an, in der Familie, in unserem persönlichen Umfeld. Früher war es selbstverständlich, dass ein Mensch in einer schwierigen Situation von seiner Familie unterstützt worden ist. Heute im Zeitalter der Ehescheidungen und des unverbindlichen Individualismus ist eine intakte Familie leider nicht  mehr der Regelfall. Wohin also wendet sich ein Mensch in Not? Es bleibt ihm nur noch der Staat, die Allgemeinheit muss den einzelnen stützen. Dies führt leider auch immer häufiger zu einer Konsumhaltung dem Staat gegenüber. Bei jeglichen Problemen, sei es im gesundheitlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich, wird sofort nach dem Staat gerufen. Bei nachbarschaftlichen Streitigkeiten, Lärmbelästigungen und weiteren Störungen werden die Polizei und die Gerichte bemüht. Wir sind nicht mehr konfliktfähig, nicht mehr in der Lage, Zwistigkeiten von Angesicht zu Angesicht auszutragen. Auch gehört es zum guten Ton, über die schweizerische Gesetzesflut zu jammern, andererseits schreien wir sofort nach neuen Gesetzen, wenn wir selbst etwas verhindern oder uns schützen wollen. Der Staat soll’s richten, der treusorgende „Vater Staat“. Diese Mentalität zeugt von einem Staatsverständnis, das eher einem totalitären als einem demokratischen Gemeinwesen zugehört!
Und es ist daher  nicht weiter verwunderlich, wenn der Staat, sprich die Verwaltung, diesem Auftrag nachkommt. Und da sie dies möglichst kostensparend und effizient tun muss, führt das zu einer flächendeckenden Gleichschaltung. Aber ein reibungsloser und effizienter Verwaltungsapparat  ist der direkten Demokratie nicht unbedingt förderlich. Demokratie, wird oft bemängelt, ist langsam, schwerfällig, kompromissbereit. Sie garantiert aber, dass alle Interessen und alle Gesichtspunkte eingebracht und alle Betroffenen beteiligt werden können. Der Staat, das sind doch grundsätzlich wir, die Bürgerinnen und Bürger. Und unsere Demokratie ist nur so gut und sinnvoll, wie wir sie auch einsetzen.
Letztlich liegt es also auch an uns allen, an jedem einzelnen, wie wir unsere Eigenverantwortung wahrnehmen. Das wichtigste ist die Erkenntnis, dass wir für unsere Lebensgestaltung und unsere Zufriedenheit selber verantwortlich sind. Die Aufgabe des Staates ist es nicht, das Glück des einzelnen zu garantieren, sondern nur die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit jeder Bürger und jede Bürgerin sich darin entfalten kann. Dieses Bewusstsein muss wieder gestärkt werden.

Letzten Samstag hatte ich die Gelegenheit, die NEAT-Baustelle in Sedrun zu besichtigen. Die Sicherheit der Arbeiter ist dort oberstes Gebot, allerdings ist bei der Grösse dieser Baustelle jeder einzelne gefordert, auch ohne Kontrollen die Sicherheitsbestimmungen einzuhalten. Um die Arbeiter daran zu erinnern, hängt am Eingang zur Garderobe, wo sie ihre Schutzkleidung anziehen, ein grosser Spiegel. Jeder, der die Garderobe betritt, sieht sich unweigerlich selbst in diesem Spiegel. Darüber hängt ein grosses Schild, auf dem steht: „Diese Person ist für Ihre Sicherheit verantwortlich.“ Nun, ich würde mir wünschen, dass jeder zu Hause über seinem Badezimmerspiegel ein solches Schild hätte, auf dem steht: „Nur diese Person ist für Sie verantwortlich!“ Dieser Grundhaltung dem Staat und der Gesellschaft gegenüber müssen wir Sorge tragen und auch unseren Kindern wieder weitergeben. Schon bei der Erziehung stellen wir wichtige Weichen. Wenn wir unseren Kindern jegliche Hindernisse aus dem Weg räumen, jedes Problem an eine Fachperson delegieren und bei allfälligen Disziplinarmassnahmen der Schule gleich mit dem Anwalt drohen, können wir doch nicht erwarten, dass unsere Kinder später einmal in der Lage sind, ihr Leben selbstverantwortlich zu meistern. An Hindernisse stossen und Hürden aus eigener Kraft überwinden, aber auch Konsequenzen tragen müssen, das macht stark und selbstbewusst und führt zu einer höheren Zufriedenheit. Und nur dadurch lernt man, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Andernfalls begibt man sich in eine fatale Abhängigkeit der Fürsorge des Staates gegenüber. Eigenständigkeit erhält man nur durch Selbstverantwortung. Wer sein Leben selbst gestaltet, wird auch mit Interesse am politischen Geschehen teilnehmen, da alles auch einen direkten Einfluss auf das persönliche Umfeld hat.
Leider ist es aber eine Tatsache, das der Spielraum in einer Gemeinde, also auf der direktdemokratischen Ebene, immer mehr eingeschränkt wird, so dass die Motivation der Bürger, sich aktiv am politischen Leben zu betätigen, immer häufiger einer Resignation weicht. Somit schliesst sich der Kreis und wir befinden uns wieder am Ausgangspunkt, bei der Beziehung zwischen Gemeinden und Kanton, die auch stark das Verhältnis der Bürger zum Staat widerspiegelt.

Gerade am 1. August, wenn wir uns unserer Demokratie rühmen, müssen wir uns bewusst machen, dass wir zu ihr Sorge tragen müssen. Es liegt an jedem einzelnen von uns, das Weiterbestehen unseres direktdemokratischen Systems, das einzigartig ist auf der Welt, zu gewährleisten. Nur wer seine Selbstverantwortung wahrnimmt, erhält seine Eigenständigkeit und hält fremden Einfluss auf sein Leben gering. Das ist besser für unsere Familien, unsere Gemeinden, unseren Kanton und unser Land. Darum möchte ich Sie zum Schluss dazu aufrufen: Denken Sie einmal über Ihre Haltung und Ihren Bezug zum Staat nach, nehmen Sie teil am politischen Prozess, stimmen Sie ab, gehen Sie wählen, engagieren Sie sich, sei es in den Vereinen, in der Feuerwehr, in einer Kommission oder einem politischen Amt! Es ist die Person gerade vor Ihnen im Spiegel, die für Sie verantwortlich ist, nicht irgendjemand links oder rechts davon. Seien wir unseren Kindern ein Vorbild, damit auch die nächste Generation selbstverantwortlich ihr Umfeld gestalten kann, und dies in basisdemokratischen, starken Gemeinden in einer eigenständigen, unabhängigen Schweiz!  

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch weiterhin eine schöne, besinnliche und gesellige 1. August-Feier.

Alexandra Abbt