Bevormundung und Freiheit

Rede zum 1. August 2008 in Arni AG

 

Liebe Arnerinnen und Arner, liebe Festgemeinde

Es freut mich sehr, dass ich heute Abend hier bei Ihnen die Festansprache halten darf, und dies als Islisbergerin gerade in dem Jahr, in dem die beiden Gemeinden Arni und Islisberg ihre 25-jährige Selbständigkeit feiern. Die damalige Trennung war sicher mit vielen schlechten Gefühlen und mit Ängsten verbunden, aber auch mit Freude und Hoffnung auf eine selbstbestimmte Zukunft. Die Entwicklung der letzten Jahre hat es gezeigt, beide Dörfer haben vom damaligen Entschluss profitiert.

Das ist keine Selbstverständlichkeit, vor allem wenn wir das gegenwärtige politische und gesellschaftliche Umfeld betrachten. Die Aargauer Regierung predigt ja unermüdlich Zentralismus und Zusammenschlüsse. Kleine Gemeinden dürfen nicht mehr existieren, sie stehen unter Generalverdacht, unprofessionell und teuer zu sein. Natürlich gibt es Gemeindezusammenschlüsse, die durchaus richtig und nötig sind. Und oberstes Gebot muss in diesem Prozess sowieso sein, dass die Bevölkerung diese Fusionen will und mitträgt. Solche Vorgänge dürfen nicht von der Verwaltung von Aarau aus verfügt werden. Denn oftmals gehen dabei wichtige Gründe für einen weiteren Alleingang einer Gemeinde vergessen; die direkte Demokratie, die bessere Überschaubarkeit der kleineren Strukturen, die fehlende Anonymität. Ausserdem sind der Effizienzgewinn und die Senkung der Verwaltungskosten sehr gering, Studien siedeln ihn bei höchstens 2 % an. Aber es soll heute Abend kein Referat zum Thema Gemeindezusammenschlüsse werden, vielmehr bietet unser Nationalfeiertag jedes Jahr die Gelegenheit, um über den Zustand unseres Gemeinwesens und unserer Demokratie nachzudenken, da wir heute ja die Gründung unserer Eidgenossenschaft feiern. Für mich hört die Demokratie dort auf, wo der Staat und seine Verwaltung beginnen, sich zu verselbständigen. Der Handlungsspielraum jedes einzelnen und auch derjenige der Gemeinden wird immer enger, jeden Dienstag machen wir Grossrätinnen und Grossräte wieder neue Gesetze. Der neueste Wurf aus dem Regierungsgebäude in Aarau ist die faktische Abschaffung der Bezirke, genannt „Aargau21“, ein Name, der wohl zeigen soll, dass nur so unser Kanton im 21. Jahrhundert bestehen könne.
Natürlich haben Sie wohl kaum je etwas mit dem Bezirksamt zu schaffen, und mit dem Bezirksgericht wohl lieber auch nicht…. Und trotzdem müssen wir uns gegen dieses Projekt wehren, weil einerseits der geplante zentrale Standort für das Bezirksgericht Baden sein soll, und das liegt wohl noch weniger auf Ihrem Arbeitsweg als Bremgarten. Und andererseits sollen die weiteren Aufgaben der Bezirksämter ebenfalls zentral wahrgenommen werden, als erste Ansprechsstelle sollen aber die Gemeindekanzleien walten. Sie ahnen es: die Gemeindekanzleien bekommen neue Aufgaben zugeschoben, was zu Mehrbelastungen führt, womit die Regierung wieder argumentieren kann, dass die kleinen Gemeinden ihre Aufgaben nicht wahrnehmen können und fusionieren sollen….Der Kreis schliesst sich, von Kundennähe und persönlichem Kontakt kann keine Rede mehr sein.
Es ist selbstverständlich immer angebracht, bestehende Strukturen zu hinterfragen und zu prüfen, ob sie noch zeitgemäss sind. Und für einige Aufgaben unseres Gemeinwesens ist eine zentrale Stelle und eine einheitliche Regelung angebracht und erwünscht, wie auch die Abstimmung über HARMOS in der ganzen Schweiz gezeigt hat. Wenn wir allerdings durch die anonyme Zentralisierung aller Staatsaufgaben immer mehr Selbstbestimmungsrecht abgeben, hat dies auch ganz klar eine Auswirkung auf unsere direkte Demokratie.
In einer grossen Gemeinde zählt die einzelne Stimme viel weniger, entsprechend klein ist auch die Motivation, aktiv am politischen Leben teilzunehmen. Nun ist es aber zu einfach, die Regierung oder die Politiker im Allgemeinen für die zunehmende Reglementierung unseres Alltags verantwortlich zu machen.
Vielmehr wird die Politik oftmals durch gesellschaftliche Entwicklungen zum Handeln gezwungen. Heute beobachten wir eine zunehmende Prozesswut, bei vielen zwischenmenschlichen Problemen, bei Unfällen oder bei Entscheiden von Behörden wird gleich der Rechtsweg beschritten. Offenbar sind wir nicht mehr in der Lage, Kompromisse zu finden oder Unfälle als Schicksal oder Eigenverschulden hinzunehmen; ein Sündenbock muss her und vor Gericht gezerrt werden. Dies zwingt die Politik, alle Gesetze bis ins letzte Detail auszuarbeiten, damit ja kein Interpretationsspielraum mehr bleibt und dies zwingt vor allem auch die Behörden, sich buchstabengetreu an die Gesetze zu halten ohne eigenes Ermessen, aus Angst vor Präzedenzfällen. Und je dichter der Gesetzesdschungel wird, desto weniger Freiheit geniesst der Einzelne und desto weniger tatkräftige Macher sind in den Behörden zu finden, aus Furcht vor langwierigen und kostspieligen Rechtshändel und weil eine gewisse Kreativität im Behandeln von Problemen heute scheinbar nicht mehr erwünscht ist. Ausserdem ist es viel  einfacher und bequemer, sich von oben regieren zu lassen, als sein Leben selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen. Das zeigt eine weitere Seite dieses Problems, nämlich der ganze Bereich unter dem Schlagwort „Prävention“.
Das fängt beispielsweise beim Bauen an: wenn ich selber bauen möchte, sind mir alle Vorschriften in diesem Bereich zuviel, baut aber mein Nachbar, so kann es mir nicht genug Bestimmungen haben, die sein Gebäude einschränken. Das ist soweit verständlich, und es ist relativ einfach, Höhe und Grenzabstand eines Gebäudes festzulegen. Ganz anders sieht es bei der Unfallverhütung aus. Wohl ist es zum Vorteil von allen Prämienzahlern, wenn vermeidbare Unfälle durch Präventionsmassnahmen verhindert werden und so die Krankenkassen-kosten nicht noch mehr steigen. Aber bei Sicherheitsbestimmungen im öffentlichen Raum und bei der Gesundheitsvorsorge gibt es beinahe kein Halten mehr. Man versucht, auch die unwahrscheinlichsten Fälle vorherzusehen und eine Verhütungsmassnahme zu ergreifen. Schuld daran ist vor allem wie schon erwähnt die Prozessierwut, die aus den USA zu uns übergeschwappt ist. Ist ein Fussgängerstreifen nur einen Zentimeter ausserhalb des Sichtradius, kann der Autofahrer, der einen Fussgänger angefahren hat, gegen den Staat klagen, mit guten Gewinnchancen. In unserem enormen Sicherheitsbedürfnis ist uns immer weniger bewusst, dass es die absolute Sicherheit nicht geben kann. Falls doch etwas passiert, braucht es einen Schuldigen, jemanden, der die Verantwortung übernimmt. Die Verantwortung, die sehen wir nämlich immer weniger bei uns selber. Der Staat soll die Verantwortung übernehmen, der Staat ist schuld an meinen Beschwerden, weil er mich nicht gewarnt hat, der Staat hat zu wenige Vorkehrungen getroffen!  So wächst die Reglementierung unseres Alltags ständig an, wir beklagen unsere Unfreiheit und die Gesetzesflut und sind doch letztlich selbst daran schuld, weil wir nicht bereit sind, Eigenverantwortung zu übernehmen. Dies ist ein regelrechter Teufelskreis, denn wenn die Bürger dauernd vom so genannten „Vater Staat“ bevormundet und gegängelt werden, können sie es gar nicht lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen und erwartet in jeder Lebenslage eine entsprechende Verhaltensmassregel, möglichst von entsprechenden Fachleuten erarbeitet, auf unseren gesunden Menschenverstand verlassen wir uns ja schon lange nicht mehr! Jüngstes Beispiel ist die neue Verordnung für Hundehalter, die erst fünf Theorielektionen absolvieren müssen, ehe sie einen Hund anschaffen und danach noch zehn Lektionen Hundeschule, und dies unabhängig von der Grösse und der Rasse des Hundes; reine Geldmacherei! Seien wir doch ehrlich, wir alle wissen im Grunde, wie wir uns gesund ernähren müssten, da braucht es keine Kennzeichnung „ungesunder“ Lebensmittel, wie es in Grossbritannien verlangt wird. Ebenso ist allen bekannt, dass Bewegung wichtig und Rauchen ungesund ist, teure Weltformat-Plakate werden uns aber kaum zu mehr sportlicher Betätigung oder zur Abstinenz führen.
Letztlich ist dieser Präventionszwang auch eine Gefahr für unsere direkte Demokratie, denn wo das „gesunde“ und risikolose Verhalten oberstes Gebot ist, bleibt keine Entscheidungsfreiheit mehr.
Liebe Festgemeinde, Umdenken und eine Rückbesinnung auf unseren eigenen gesunden Menschenverstand tut not. Es muss uns wieder vermehrt bewusst werden, dass nur wir selber für unser Glück und Wohlergehen verantwortlich sind und daher auch selber die Konsequenzen aus unserem Verhalten tragen müssen. Das ist oft unbequem, erfordert Mut und Entscheidungsfreude und schliesst auch Fehler nicht aus. Es ist natürlich eine Aufgabe der Politik, auf Entwicklungen in der Gesellschaft zu reagieren und schwerwiegende Probleme anzugehen. Wenn wir beispielsweise je länger je mehr  mit schlecht ausgebildeten, frustrierten und gewaltbereiten Jugendlichen konfrontiert sind, dann hat dies enorme Folgen für unsere Gesellschaft, und gerade hier ist es angezeigt, dass man Lösungen sucht, um die Rahmenbedingungen zu verbessern und im Schulbereich vorsorglich einzugreifen. Überhaupt, die einzig wahre Prävention ist eine gute Ausbildung, die Selbstverantwortung und Eigenkompetenz für alle Lebenslagen fördert, beides Eigenschaften, die für das Fortbestehen unseres demokratischen Staatswesens unabdingbar sind. Wir alle sind jedoch dazu aufgerufen, diese Werte unseren Kindern auch wirklich vorzuleben! Wir alle können etwas bewirken in unserem Land, so wie auch unsere Vorfahren ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und nicht mehr vom Kaiser und seinen Vögten abhängig bleiben wollten. Das alles soll uns wieder vermehrt Vorbild sein und uns aufrütteln, uns an unserem Gemeinwesen zu beteiligen. Ich bin überzeugt, dass dies am besten in kleinen, übersichtlichen Strukturen funktioniert, in denen man die Mitmenschen noch persönlich kennt und man an ihrem Leben und sie an unserem Anteil nehmen können
Und gleichzeitig muss uns aber bewusst sein, dass sich nicht alles vorhersehen und verhindern lässt, dass auch die Eigenverantwortung dort ihre Grenzen hat, wo eine höhere Macht unser Schicksal lenkt. Es ist deshalb nur richtig, wenn unsere Landeshymne in der Form eines Psalms abgefasst ist, denn damit wird unsere Staatsform, die wir ja am 1. August feiern, auf den Punkt gebracht: für unsere Freiheit und unser Staatswesen sind wir verantwortlich, für alles andere ist es Gott.

Lieber Festgemeinde, ich wünsche unseren beiden Gemeinden Arni und Islisberg weiterhin viel Glück auf ihrem eigenständigen und gleichzeitig doch gemeinsamen Weg und auch für die Zukunft noch viele engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bereit sind, sich für unser Gemeinwesen einzusetzen, hier im Dorf, in unserem Kanton und in unserem Land. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und noch weiterhin eine fröhliche und gesellige 1. Augustfeier!

Alexandra Abbt