Rede zum 1. August 2010 in Aesch ZH

Liebe Aescherinnen und Aescher, liebe Festgemeinde

Ich freue mich sehr, für einmal als Aargauerin im Kanton Zürich die Festansprache halten zu dürfen, umso mehr, wenn es sich dabei um unsere geschätzte Nachbargemeinde handelt.

Aesch und Islisberg verbindet so manches. Beim Austausch zwischen unseren Gemeindebehörden stellen wir immer wieder fest, dass wir mit den selben oder zumindest ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. So ist sowohl im Aargau wie auch im Kanton Zürich der Druck auf die kleinen Gemeinden enorm gewachsen. Ginge es nach den kantonalen Verwaltungen und dem Regierungsrat, so müssten wir mit einer anderen Gemeinde fusionieren. Auch die Argumentation ist dieselbe: Kleine Gemeinden hätten keine Zukunft, könnten die anstehenden Aufgaben nicht lösen, fänden keine Behördenmitglieder mehr und arbeiteten überhaupt unprofessionell. Dabei interessiert es offenbar niemanden, dass es auch kleine Gemeinden gibt, die finanziell sehr gut dastehen, mit etwas Geschick ihre Probleme durchaus lösen, und von fehlender Professionalität kann keine Rede sein! Vielmehr haben unsere Generalistinnen auf der Gemeindeverwaltung eine viel bessere Übersicht und können vernetzt arbeiten und nicht nur ihr eigenes Gärtchen bewirtschaften. Ich glaube, da sind wir uns einig, sowohl Aesch wie auch Islisberg bleiben eigenständig, und wenn sie dereinst auf äusseren Druck fusionieren müssen, dann am liebsten miteinander…!

Es ist aber eine Tatsache, dass die Aufgaben der Gemeinden vielfältiger geworden sind. Immer mehr Dienstleistungen müssen neu erbracht, immer mehr Beratungsstellen finanziert werden. Es lohnt sich vor diesem Hintergrund, einmal und gerade am 1. August, zu hinterfragen, weshalb dies so ist. Haben sich tatsächlich unsere Probleme so vervielfacht oder sind es nicht auch unsere Ansprüche, die gestiegen sind? Wir bewegen uns weg von einer Leistungsgesellschaft, in der jede Person Verantwortung übernimmt, hin zu einer Anspruchsgesellschaft. „Ich habe Anspruch darauf!“ ist ein beliebter und oft gehörter Satz geworden, und dies nicht nur im Verkehr mit der öffentlichen Hand, sondern in vielen Lebenslagen. Natürlich haben wir unsere verfassungsmässigen Ansprüche auf Gleichbehandlung, auf Schutz von Leib und Leben und auch auf Schutz unseres Eigentums, auf Religionsfreiheit und auf Meinungsfreiheit. In der Verfassung sind dies allerdings keine Ansprüche, sondern Rechte. Rechte kann man wahrnehmen, ist sich aber bewusst, dass diese Rechte auch mit Pflichten gekoppelt sind. Der Pflicht, auch die Rechte des Mitmenschen zu wahren und Verantwortung für den Staat zu übernehmen, zum Beispiel.
Der Begriff „Anspruch“ aber steht für sich allein, wie auch der Mensch, der einen Anspruch stellt, sich selbst, und ausschliesslich sich selbst, in den Mittelpunkt setzt. Diese Anspruchs-Mentalität beginnt schon früh. Kinder werden immer anspruchsvoller, und Eltern sind oft nur noch dazu da, die Ansprüche der Kinder zu erfüllen. Jedes Kind hat Anspruch auf eine angemessene Förderung, aber dass dies nicht immer nur Sache der Schule sein kann, geht dabei oftmals vergessen. Schliesslich sitzen in einer Klasse noch mehr Schüler mit ihren individuellen Ansprüchen, dem kann eine Lehrperson gar nicht gerecht werden.
Weiter geht es mit unseren Ansprüchen, den Wohnraum, den wir heutzutage pro Person beanspruchen, ist fast doppelt so gross wie noch vor dreissig Jahren, mindestens ein Auto, ein Fernseher, ein Computer und für jeden ein Handy oder Smartphone wird als Standart angesehen. Eine Schuldenberaterin hat einmal erzählt, dass sie mit einem jungen Mann ein Budget erstellen musste. Als sie ihn vorsichtig darauf hingewiesen hat, dass er anstelle seines Gipfelis jeden Morgen auch Brot essen könnte, das sei viel günstiger, reagierte der Klient ganz empört. Er habe doch ein Anrecht darauf, jeden Morgen ein Gipfeli zu essen, sonst sei es doch kein Zmorge! Man erhebt den Anspruch, jedes Jahr mindestens einmal in die Skiferien zu fahren und einmal mit dem Flugzeug weiter weg sich zu erholen. Wir haben Anspruch auf unsere Ruhe, gleichzeitig aber auch Anspruch darauf, zu jeder Tages- und Nachtzeit unsere Bedürfnisse decken zu können.
Natürlich dürfen wir auch in Anspruch nehmen, dass der Staat für unsere Sicherheit sorgt, immer und überall. Notfalls setzten wir unsere Ansprüche auf dem gerichtlichen Weg durch. Und weil der Anspruch nur unsere eigenen individuellen Bedürfnisse ins Zentrum stellt, ist ein Kompromiss schier unmöglich und man ist auch nicht bereit, die andere Seite zu verstehen. Ich denke, sowohl die Bevölkerung von Aesch wie auch von Islisberg ist mit ihren Ansprüchen noch sehr zurückhaltend und nimmt ihre Verantwortung dem Gemeinwesen gegenüber wahr. Trotzdem kann ich Ihnen ein paar Beispiele aus unserer Gemeinde zeigen: Eine Person, die einmal neu in eine Wohnung an unserer Hauptstrasse gezogen ist, beschwerte sich nach ein paar Tagen auf der Gemeindekanzlei wegen des Strassenlärms. Das gehe so nicht, die Gemeinde müsse unbedingt etwas unternehmen, er halte das nicht aus! Dabei ist anzufügen, dass unsere Kantonsstrasse nicht einmal einen Viertel des Verkehrs von Ihrer Hauptstrasse durch Aesch hat! Der Mann war auch ganz uneinsichtig, als er darauf hingewiesen wurde, dass die Gemeinde nicht einfach eine Kantonsstrasse, und noch dazu die einzige Durchgangsstrasse durch den Ort, sperren könnte. Er ist dann bald wieder weggezogen.
Oder die zahlreichen Klagen von Neuzuzügern, die gleich neben die Kapelle zu wohnen kamen und von ihrem Fenster aus sogar die Glocken gesehen haben. Die haben sich dann über das Glockengeläute beschwert, und zwar in dem Ton, dass unverzüglich diese blöden Glocken abgestellt werden müssten, sie könnten ja gar nicht schlafen. Sie können die Kirchenglocken auch durch Kuhglocken oder Schulhaus oder spielende Kinder ersetzen, die Klagen bleiben die gleichen.
Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass unsere Bürgerinnen und Bürger mit berechtigten Anliegen jederzeit an die Gemeinde gelangen können. Es ist vielmehr die fehlende Eigenverantwortung – schliesslich sieht jeder, dass er neben eine Kirche zieht und kann sich erkundigen, wann die Glocken läuten – und der Egoismus, der sich in einigen Ansprüchen spiegelt. Ein Anspruch wird als gegeben angesehen, rein durch die Existenz oder die Anwesenheit einer Person. Es ist überhaupt keine Frage mehr von Verdienst oder gar Eigenleistung.
Von der Werbung wird uns diese Haltung aber auch vehement eingetrichtert. Als Kunde bin ich König, ich habe Anspruch auf das Beste, einfach weil ich Kunde bin. Wir kennen doch alle den Spruch: „Weil ich es mir wert bin“. Ja, wir sind es uns wert, nur die höchsten Ansprüche zu stellen, weil wir ja so einzigartig sind, haben wir auch Anspruch auf einzigartige Produkte. Dass wir diese Ansprüche mit teuerem Geld bezahlen, dass wird in der Werbung nicht erwähnt. Dort läuft es dann eher in die Richtung: „Geiz ist geil.“, was nichts anderes heisst, als dass uns die berechtigten Ansprüche der Arbeiterschaft aus Billiglohnländern oder unserer Umwelt völlig gleichgültig sind.
Und mit dieser Gewissheit, das Zentrum des Universums zu sein, bewegen wir uns durchs Leben. Tauchen dann einmal Schicksalsschläge auf, sind wir nicht mehr in der Lage, diese zu bewältigen, sondern haben ja zum Glück Anspruch auf Careteams und fachliche Unterstützung des Staates. Unser persönliches Umfeld kann nicht damit belastet werden, es hat ja Anspruch auf etwas Ruhe vom hektischen Alltag…
„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ hat die Generation vor uns noch hochgehalten. Heute müsste es eher heissen: „Brauchst du Hilfe, komm zu Vater Staat!“ Dass diese Haltung es unserem Gemeinwesen schwer macht, weiterhin im Milizsystem zu funktionieren, liegt auf der Hand. Denn wie gesagt, die Ansprüche an den Staat werden immer höher. Ich könnte jetzt auch noch die ganze Präventionsindustrie erwähnen, die ebenfalls aufgrund unseres Anspruches auf absolute Sicherheit in astronomische Höhen wächst, sich bereits schon in zahllosen Verwaltungsstellen beim Kanton und beim Bund verselbständigt hat und noch das letzte Restchen Eigenverantwortung ausschaltet. Das wäre allerdings wieder ein Thema für sich.
Wo verschiedenste Ansprüche aufeinander treffen, braucht es mehr Gesetze, die diese Ansprüche regeln. Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, ich bin Mitglied des Aargauer Kantonsparlaments, das jeweils dienstags tagt. Und jeden Dienstag werden wieder neue Gesetze verabschiedet. Immerhin wird versucht, diese Gesetze einigermassen grosszügig zu formulieren, was dann aber bei den Ausführungsbestimmungen, die die Details regeln, den so genannten Verordnungen, wieder zunichte gemacht wird. Und diese Verordnungen liegen in der Kompetenz des Regierungsrates, d.h. sie sind jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen. Oftmals wird darin die Absicht des Gesetzes gerade ins Gegenteil verkehrt oder dazu benutzt, den Bürger noch mehr zu bevormunden. Betreuungsbrevet und Kindersitzobligatorium lassen grüssen…

Unsere Vorfahren haben für die Freiheit gekämpft, im 19. Jahrhundert sogar bis zur Freiheit von der Religion, gerade im Kanton Aargau ein etwas schmerzhaftes Kapitel. Und wir sind heute fleissig daran, diese Freiheit Stück um Stück einzuschränken. So werden wir nicht mehr nur zur Anspruchsgesellschaft sondern zur Verbotsgesellschaft. Ironischerweise ist es trotzdem politisch zur Zeit Mode, „liberal“ zu sein. Praktisch jede Partei beruft sich auf liberale Grundsätze und verabschiedet nichts desto trotz immer mehr Gesetze. Ist unsere Gesellschaft tatsächlich nicht mehr in der Lage, eigenverantwortlich zu funktionieren? Das wäre eine Kapitulationserklärung für unsere Demokratie und ein Abschied vom gesunden Menschenverstand. Mir geht es heute darum, dass wir vermehrt unsere Haltung dem Staat gegenüber hinterfragen, unsere Ansprüche überprüfen und unsere Kinder zu eigenverantwortlichen und sozialen Mitgliedern unserer Gesellschaft erziehen, zu Bescheidenheit und Rücksichtsnahme, auch wenn dies überhaupt nicht im Zeitgeist liegt. Wir müssen alle mehr Eigenverantwortung übernehmen, damit unser Staat bezahlbar bleibt, damit die Menschlichkeit in unserer Gesellschaft nicht verloren geht und damit unsere Demokratie nicht sinnlos wird. Unsere Schweiz braucht unseren Einsatz und unsere Sorgfalt, denn, wie heisst es so schön, „Das ist sie mir wert!“
Ihnen allen danke ich ganz herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch eine schöne 1. Augustfeier.

Alexandra Abbt