Über das Glück oder Was macht ein gelingendes Leben aus?
Rede zum 1. August 2015 in Oberlunkhofen

Liebe Festgemeinde aus Ober- und Unterlunkhofen, liebe Gäste

Es freut mich sehr, heute Abend hier zu sein und es ist mir eine Ehre, die Festrede zum Nationalfeiertag zu halten. Dies ist ja landauf, landab Anlass für zahlreiche Reden, in denen es um unsere Eigenheiten, um unsere Unabhängigkeit und um unsere Werte geht. Gerne werden auch immer wieder unsere „christlichen“ Werte betont, wobei sich hier die Frage stellt, was überhaupt damit gemeint ist.

Vor einem Jahr bin ich aus dem Grossen Rat zurückgetreten, weil ich ein Theologiestudium begonnen habe. Die Reaktionen darauf waren vielfältig, völliges Unverständnis ist mir auch begegnet, da doch „Politik alles umfasse, da kann es doch gar nicht mehr geben“... oder auch: „ Wieso studierst Du nicht Jus oder Wirtschaft, da bist du in drei Jahren fertig und machst nachher Karriere.“ Diese Bemerkungen kamen übrigens von Personen, die sich gerne auf die „christlichen Werte“ berufen...
Die Grundsatzfrage, die wir alle uns auch immer wieder und gerade an einem Tag wie dem 1. August stellen sollten, ist doch die: Was braucht es zu einem gelingenden Leben? Worin besteht der Sinn unseres Daseins oder wie können wir unser Dasein mit Sinn füllen? Oder, eine Stufe tiefer: was schafft uns Heimat?

Vor ein paar Jahren hat mein damaliger Grossratskollege Martin Köchli einen Vorstoss für ein Schulfach „Glück“ lanciert. Das wurde eine Zeitlang zum medialen Thema, wobei das Anliegen eher belächelt und der Initiant als unverbesserlicher Träumer abgestempelt wurde. Auch im Grossen Rat hatte der Vorstoss keine Chance. Dabei hat er einen wesentlichen Punkt berührt, der unser alltägliches Leben prägt. Wann, meine Damen und Herren, waren Sie zum letzten Mal so richtig glücklich? Und damit meine ich nicht die kurze Befriedigung nach dem Kauf der Applewatch oder beim Erhalt eines Zalando-Pakets. Nein, wann waren Sie so völlig in eine Tätigkeit oder in einem Augenblick versunken, dass Sie alles um sich herum vergessen haben und – das ist das Entscheidende – waren danach völlig zufrieden und eins mit sich und der Welt? Vielleicht als Kind einmal beim versunkenen Spielen? Und kennen Ihre Kinder dieses Gefühl überhaupt? Hatten sie je Gelegenheit dazu, neben dem ganzen Freizeitprogramm und der Schule?

Liebe Festgemeinde, was ist los mit unserer Gesellschaft? Immer wieder bin ich Jugendlichen begegnet, die keine Perspektive und kein Ziel haben, die nicht einmal wussten, was sie überhaupt gerne machen – ausser Shoppen und Gamen. Es gibt so viele junge Menschen, die depressiv sind, suizidgefährdet, die kein Fundament haben, nichts, das sie trägt, wenn das Schicksal es einmal nicht so gut meint mit ihnen. Glück ist für viele nur der kurze Moment der Befriedigung eines Konsumbedürfnisses.
Gleichzeitig wird der Mensch nach den Bedürfnissen der Wirtschaft und einer Leistungsgesellschaft geformt, Verlustangst und globaler Konkurrenzdruck sind allgegenwärtig. Mit dem technischen Fortschritt wächst aber auch die Überzeugung, dass alles möglich ist und, noch viel bedenklicher, dass alles, was möglich ist, auch gemacht werden muss. Beispiel dafür ist die PID-Abstimmung: noch keine zwei Monate ist es her seit den vehementen Beteuerungen, dass nur nach Erbkrankheiten selektiert werden darf, und nun machen sich gewisse Politikerinnen bereits Gedanken darüber, ob man auch Abtreibungen wegen eines „falschen“ Geschlechts vornehmen darf. Die Büchse der Pandorra lässt sich eben nicht nur ein bisschen öffnen, entweder bleibt der Deckel drauf oder er wird entfernt!

Sind wir uns überhaupt noch der Tatsache bewusst, dass unser Leben verletzlich und endlich ist, dass es so etwas wie Schicksal gibt, das trotz Vollkasko-Mentalität unserer Präventionsmaschinerie nicht eliminiert werden kann?

Kommen wir also zurück zu den vielbeschworenen „christlichen Werten“ unseres Landes. Damit diese nicht nur leere Worthülsen sind, die neben östlichen Meditationstechniken, keltischen Baumorakeln und schamanischen Heilungsmethoden stehen, muss zuerst gefragt werden, was für ein Menschenbild diesen christlichen Werten zugrunde liegt. Im Alten Testament, das wir oft für grausam halten, weil wir es aus einer ganz anderen Zeit und einer ganz anderen Denktradition heraus zu verstehen suchen, ist der Glaube ein Beziehungsgeschehen. Gott erschafft die Welt und den Menschen – als Mann und Frau- als Verwalter dieser Welt und als ein Ebenbild und ein Du für Gott selbst. Die Beziehung also ist es, die das menschliche Leben definiert, die Beziehung zu Gott, aber auch zu den Mitmenschen, den Tieren, der Welt, die unser geschenktes Lebenshaus ist, dem wir Sorge tragen müssen. Menschliches Leben ohne tragfähige Beziehungen kann nicht gelingen, das war den Menschen vor 3500 Jahren bereits bewusst, heute scheint dies immer mehr vergessen zu gehen.
Dabei ist der Mensch immer eingebettet in das grosse Ganze, so wie er sich den Mitmenschen gegenüber verhält, so wird er auch von den anderen behandelt. Schicksalsschläge sind im natürlichen Ablauf unvermeidlich, können aber dank gegenseitiger Unterstützung und Hilfe überwunden und ausgehalten werden.

Unsere heutige Wegwerfgesellschaft krankt an ihrer Beziehungslosigkeit, die sich nicht nur auf den zwischenmenschlichen Bereich erstreckt. Konsumgüter und Nahrungsmittel werden immer billiger, dadurch können sie immer einfacher ersetzt werden, was von der Wirtschaft, die vom Konsum befeuert wird, durchaus gefördert wird. Alles ist im Übermass da, alles fast allen zugänglich und zwar fast augenblicklich. Dabei: wer selber Dinge herstellt, weiss, wieviel Energie und wie viele Rohstoffe darin stecken und wird viel sorgsamer damit umgehen, weil er den Wert aus Erfahrung kennt. Das Bewusstsein wächst, dass die natürlichen Ressourcen nicht unbeschränkt vorhanden sind. Wer die Natur kennt und liebt, wird verantwortungsvoller damit umgehen. Nur, wie können unsere Kinder die Natur kennen lernen, wenn die Eltern sie in erster Linie als Gefahrenquelle wahrnehmen, wenn „draussen spielen“ den Aufenthalt auf eingezäunten und beaufsichtigten Arealen mit sterilen, BFU-geprüften Spielgeräten auf Rasen und Fallschutzplatten meint?

Unser Sozialstaat ist gewiss eine Errungenschaft. Mittlerweile ist er aber so ausgebaut, dass die Menschen nicht mehr aufeinander angewiesen sind, sondern sich in fast jedem Fall an den Staat wenden können. Das ist bequemer, anonymer und verlangt weniger Gegenleistung.

Diese in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesene Beziehungslosigkeit verdecken wir meistens gekonnt durch materiellen Wohlstand, durch mediale Ablenkungen und eine generelle Unrast und Umtriebigkeit. Sind wir aber einmal auf uns selber zurückgeworfen, z.B. durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, entdecken wir nur eine unermessliche Leere und Sinnlosigkeit.

Liebe Festgemeinde, wir können und wir sollen auch nicht mehr zurück zu einer archaischen Nomadengesellschaft. Aber es ist höchste Zeit, dass wir uns daran erinnern, was unser Leben wirklich ausmacht. Der Mensch ist ein Beziehungswesen, Beziehungen bedeuten auch Heimat, wir sind eingebettet in eine Welt, die uns erhält und versorgt, uns Heimat ist, sofern wir selbst auch einen Teil dazu beitragen. Christliche Werte sind also Grundsätze, die aus einem Verständnis von intakten Beziehungen zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen, zu unseren Mitlebewesen und unserem Lebensraum entstanden sind. Alles, was lebt, hat einen Wert an sich, darf nicht verökonomisiert und verzweckt werden und damit missbraucht werden. Daraus ergibt sich die Würde alles Lebendigen und seine Freiheit, eine Freiheit, die wir Schweizerinnen und Schweizer gerade am 1. August ja so gerne heraufbeschwören. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen eine Stelle aus dem Alten Testament ans Herz legen: Im 1. Buch Samuel tritt der Prophet vor Gott und sagt, dass das Volk Israel, wie alle Völker ringsum, einen König fordert. Bis dahin kannte es nur Richterpersönlichkeiten, die Ratschläge erteilten und Recht sprachen. Gott warnt das Volk Israel vor diesem Schritt, denn ein König wird die Söhne zum Kriegsdienst fordern, das Volk muss ihm Frondienst leisten, er wird den Zehnten verlangen, das Land enteignen und das Volk zu Sklaven machen. Denn Gott hat den Menschen an sich zu seinem Ebenbild gemacht, nicht ein Herrschergeschlecht wie in all den anderen vorderasiatischen und ägyptischen Religionen.

Ob die Eidgenossen sich diese Bibelstelle zum Vorbild genommen haben, kann ich nicht sagen. Vermutlich standen schon 1291 wirtschaftliche Interessen und die politische Vormachtstellung rund um die Gotthardpassroute im Vordergrund...

Jedenfalls lohnt es sich, zwischendurch einmal einen Schritt zurückzutreten, die Grundlage der eigenen Werthaltung wieder zu studieren, sein Konsumverhalten und sein Herumrennen zu pausieren, sich die Zeit und die Ruhe zu nehmen und nach seinen wirklichen Wünschen zu fragen und auch, was für einem selbst Heimat bedeutet. Es braucht dazu auch den Mut, Neues zu wagen, den vorgegebenen Weg zu verlassen, den Blick weniger auf das Materielle zu richten sondern darauf zu vertrauen, dass wir geleitet und behütet werden. Auch das gehört zur Eigenverantwortung. Wir haben unser Leben nicht geschenkt bekommen, um uns freudlos abzurackern. Wir alle können aber eine erstaunliche Leistungsfähigkeit an den Tag legen, wenn wir uns mit etwas beschäftigen, was wir wirklich, aus unserem Innersten heraus, gerne tun und wenn wir uns aufgehoben fühlen in einem tragfähigen Beziehungsnetz.

Das hebräische Wort „Shalom“ in der Bibel heisst eben nicht nur „Frieden“ als Abwesenheit von Streit, sondern meint vielmehr „Vollständigkeit, Wohlergehen“ im Sinne von einem erfüllten Dasein in jeder Beziehung. Sie sehen, so lächerlich wäre ein Schulfach „Glück“ also gar nicht, sondern im Gegenteil allumfassend und durchaus sinnvoll, denn schlussendlich führt nur ein erfülltes Dasein zum Glück, und dazu braucht es auch ein Hinterfragen des eigenen Strebens, ein Nachdenken über das Leben und ein Bewusstsein unserer Endlichkeit und unsere Angewiesenheit auf tragfähige Beziehungen und damit auf die vielgenannten christlichen Werte. Die Lösung  unserer gesellschaftlichen Probleme liegt nicht oder nicht nur in der Politik, christliche Werte und das Streben nach einem gelingenden Leben für alle von uns müssen von jedem Einzelnen beachtet werden und jeder kann selber sehr viel dazu beitragen. Uns allen wünsche ich unzählige wirkliche Glücksgefühle, ein umfassendes Wohlergehen und eine Rückbesinnung auf alles, was wichtig ist und was zählt.

Alexandra Abbt